Post-amerikanische Welt, post-ukrainische Geopolitik

15:29 25.04.2023 • Alexander Kramarenko , Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter

Schon seit Jahren reden Politologen, darunter auch in den USA, von einer postamerikanischen Welt. Auf eine neue Qualität der Geopolitik kann man unter anderem auch aus der gegenwärtigen Ukraine-Krise bzw. deren künftiger Lösung schließen. Die tiefe Verstrickung der Vereinigten Staaten in diesen Konflikt “durch Proxys“ könnte nämlich dazu führen, dass in einer Ära der nuklearen Konfrontation die Niederlage Kiews unausweichlich, wenn auch indirekt, die Niederlage der USA und Anglo-Sachsen mit sich bringt. Somit würde diese Niederlage nach dem Sturz des napoleonischen Frankreichs und Hitlerdeutschlands zum letzten fehlenden Glied in der Kette der machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und Russland. Erst danach könnte man von einer neuen Normalität in der Welt- und Europapolitik sprechen. Deren Herstellung ginge allerdings eine Phase der Nicht Konfrontation voraus, in der sich die westlichen Eliten an neue Realitäten psychologisch anpassen würden. Dabei könnte der Adaptionsprozess durch die Euphorie über den «Sieg im Kalten Krieg» und die Illusion eines «unipolaren Moments» erschwert werden, denn diese Faktoren haben Ideologie der heutigen Generationen westlicher Politiker maßgeblich geprägt. 

Wie könnte unser außenpolitisches Narrativ lauten, bis die zurzeit entstehende bzw. kommende Weltordnung ihren Lauf nimmt?

Erstens. Im Einklang mit einer tief in der Geschichte verwurzelten Tradition der Eindämmung und gelegentlich auch der Zerteilung Russlands entschied sich der historische Westen, wo in der Nachkriegszeit die USA von Deutschland und Großbritannien  die alleinige Führung übernahmen, für die Erweiterung sowohl der NATO wie auch der EU  als «Rückversicherung» für den Fall, wenn ein starkes Russland neu auferstehen würde, um seinen Großmachtstatus wieder zu erlangen. Die gegenwärtige Krise war vorherzusehen: George Kennan, der 1946 in seinem «Langen Telegramm» aus der US-Botschaft in Moskau die theoretischen Grundlagen der Eindämmungspolitik  umriss, bezeichnete den Beschluss zur Erweiterung der NATO als den «schicksalhaftesten» in der amerikanischen Politik nach dem Kalten Krieg.

Zweitens. Historisch betrachtet schließt die gegenwärtige Krise einen Zyklus der Eindämmung Russlands ab, der auf den Ersten Weltkrieg zurückgeht, dessen Hauptziel darin bestand, dass Berlin (gemäß der Logik der Thukydides-Falle) eine markante, mit dem modernen Aufstieg Chinas vergleichbare Steigerung russischer   Wirtschaft bremsen sollte. Die rasante Aufwärtsentwicklung des Landes stimulierten die Stolypinschen Reformen sowie alle vorangegangenen Reformen, einschließlich der Abschaffung der Leibeigenschaft und der Großen Reformen von Alexander II. Von Jahr zu Jahr festigte Russland seine Positionen im Welthandel, insbesondere auf dem Getreide- und Ölmarkt. Der Staat verfügte über eine starke Währung, seine Wirtschaft wies eindrückliche Wachstumsraten von etwa 10 Prozent auf.

London provozierte den Ausbruch des Krieges durch eine zweideutige Haltung in Bezug auf seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Frankreich, das ein Militärbündnis mit Russland einging. Berlin war bis zum letzten Moment davon überzeugt, dass sich die Briten fernhalten würden, wenn Deutschland gegen Russland den Krieg begänne. Die Hauptaufgabe des russischen Botschafters in London Alexander Benсkendorff bestand darin, die Briten zu einer entsprechenden öffentlichen Erklärung zu bewegen, die er jedoch nicht zu erfüllen vermochte. Die Deutschen waren sich bewusst, dass man Russland nur aus dem Inneren heraus zerstören könnte, deswegen unterhielten sie intensive Kontakte zu Trotzki und den Bolschewiki. Die Briten ihrerseits beteiligten sich im Rahmen der Mission von Lord Milner im Januar/Februar 1917 an der Verschwörung der Duma-Liberalen gegen Nikolaj II., die in der Februarrevolution und der Abdankung des Zaren mündete, was für die Destabilisierung Russlands den «point of no return» bedeutete1.

Die Liberalen ebneten den Bolschewiki den Weg zur Macht. Londons Ziel war es, eine großangelegte Frühjahrs- bzw. Sommeroffensive der russischen Armee zu verhindern und es nicht zuzulassen, dass Russland  aus der Niederlage Deutschlands und seiner Alliierten geopolitische Vorteile ziehen würde, vor allem was die Kontrolle über die Meerengen am Schwarzen Meer betraf. So war die Russische Revolution, die die evolutionäre Entwicklung des Landes unterbrach, das Ergebnis eines komplexen Komplotts externer Kräfte, die die verschiedenen Elemente der noch unreifen und heterogenen politischen Klasse Russlands ausnutzten.

Drittens. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen hat kulturelle und zivilisatorische Dimensionen. Er lässt sich zurückverfolgen bis zur Spaltung der Weltkirche im Jahr 1054, der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzritter im Jahr 1204 und dem Fall der byzantinischen Hauptstadt im Jahr 1453, als die christliche Orthodoxie infolge der Entstehung und Stärkung vom Großfürstentum Moskau bereits strategische Bedeutung erlangte. Es geht also um die unterschiedlichen Schicksale des Christentums im Osten, vor allem in Russland, und im Westen, wo sich mit der Zeit die Reformation durchgesetzt hat, was man im gewissen Sinn als eine Rückkehr zum Alten Testament bezeichnen kann. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts definierte Fjodor Tjutschew die Wechselbeziehungen zwischen Russland und dem Westen wie folgt: «Allein durch seine Existenz negiert Russland die Zukunft des Westens». Aus den jüngsten Entwicklungen könnte man durchaus schließen, dass die westlichen Eliten es genauso sehen.

Trotz der Konvergenzmomente, von denen es im 20. Jahrhundert viele gab (einschließlich der Russischen Revolution, die in ihrer Bedeutung mit der Reformation zu vergleichen ist), trug der Konflikt zwischen dem Westen und Russland während seines gesamten Verlaufs einen kulturell-zivilisatorischen Charakter und kann nur auf dem Wege der friedlichen Koexistenz gelöst werden, wie es in der Zeit des Kalten Krieges der Fall war. Davon zeugen auch die Ereignisse seit dem Ende des Kalten Kriegs. Diesen Konflikt, der für beide Seiten von existentieller Bedeutung ist, verschärfen gegenwärtig zum einen die unipolare Illusion des historischen Westens und zum anderen die Wiederherstellung zeitlicher Kohärenz und historischer Kontinuität (in Bezug auf die gesamte vorrevolutionäre Zeit) durch das heutige Russland.

Darüber hinaus weisen die Entwicklungstendenzen der westlichen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren darauf hin, dass die westliche Zivilisation in eine Ära des Niedergangs eintritt. Dies wurde von Oswald Spengler im Untergang des Abendlands prophezeit, demzufolge das 21. und die darauffolgenden Jahrhunderte durch den inneren Zerfall der Nationen in eine „formlose Bevölkerung“ sowie  durch das langsame Eindringen der primitiven Lebensformen in die hochzivilisierte Gesellschaft gekennzeichnet werden. All dies geht mit einer Kulturkrise einher, die in der Zerstörung der traditionellen Gesellschaft durch die Französische Revolution sowie durch nachfolgende Revolutionen des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung hat.

Was Amerika anbetrifft, so wird es besonders anschaulich anhand der aristokratischen Kritik an der westlichen Demokratie. So stellt der französische Politikwissenschaftler A. de Tocqueville in seiner Demokratie in Amerika fest, dass «die Redefreiheit in Amerika nicht existiert», weil «die Mehrheit ihr hemmende Schranken setzt».  Diese charakteristische Eigenart des amerikanischen Bewusstseins und der politischen Kultur in den USA kommt in solch einem Phänomen wie dem McCarthyismus besonders deutlich zum Vorschein. Heutzutage manifestiert es sich in Form sogenannter politischer Korrektheit, einschließlich des Aufzwingens von «neuen Werten» sowie der Unterstützung solcher politischen Bewegungen wie «Black Lives Matter Too!» (BLM).

Viertens. Wenn man gewilligt ist, diese kulturellen und zivilisatorischen Faktoren dem neu zu profilierenden außenpolitischen Narrativ zu Grunde zu legen, muss man sich von den Traditionen  der sowjetischen Politikwissenschaft abkehren wie auch sich von deren engen Kategorien lösen, die bei all ihrer äußerlich kritischen Ausrichtung dem Westen gegenüber westlich geprägt sind. Es fehlt ihnen an philosophischer Tiefe, um gegenwärtige Realitäten zu erkennen bzw. auszuwerten, die sich in den letzten 50 Jahren im Zuge westlicher sowie globaler Entwicklungen herausgebildet haben. Die sowjetische Politikwissenschaft lag zu dieser Zeit aufgrund des ideologischen Dogmatismus aussichtslos im Rückstand. Eine neue nationale Kohorte russischer Politologen konnte sich damals kaum entwickeln, weil die junge Generation ganz unter dem Einfluss westlicher Wissenschaft stand (infolge einer ideologischen Ausrichtung auf den Westen sowie wegen westlicher Finanzierung und aus Mangel an Vertrauen in das eigene Land).

Zu einem der größten kognitiven Fehler der Geisteswissenschaften gehörte damals die völlige Ignorierung der Philosophie der Postmoderne (M. Foucault, J. Derrida, J. Baudrillard, J. Agamben usw.), deren Kategorien den Zustand der westlichen Gesellschaft am treffendsten widerspiegeln. Sie beruhen auf amerikanischen Studien und wiedergeben die Reaktion des linken Flügels europäischer (vor allem französischer) Politologen auf die Katastrophe des Nationalsozialismus, vor der die jahrhundertealte Kultur das europäische Kontinent nicht gerettet hat. (Einen beredten Beweis liefert dafür die Tatsache, dass der Kommandant eines NS-Konzentrationslagers in seiner Freizeit Goethe las).
Diese Konzepte bzw. Begriffe («Ekstase», «Obszönität», «Dekonstruktion» usw.) lassen sich durchaus zur Analyse der heutigen internationalen Beziehungen sowie zur Lösung außenpolitischer Probleme anwenden.

Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei Baudrillards Werk «Die Fatalen Strategien» von 1983 ein, das erst kürzlich in russischer Übersetzung erschienen ist. Es enthält die These, dass fatale Strategien, die in der Geschichte wie auch in dem Schicksal von Völkern und Staaten verwurzelt sind, Vorrang vor banalen Strategien sowie vor den daraus abgeleiteten Spielregeln haben (was unseren Sieg über Napoleon und Nazideutschland hinreichend verdeutlicht). Baudrillard hinterließ innovative Ideen, die für die praktische Gestaltung der politischen Konzepte grundsätzlich umsetzbar sind, und zwar solche wie „Wiederherstellung des menschlichen Raums des Krieges“ im Schatten der nuklearen Konfrontation (Dieser Ansatz bekam in unseren Tagen eine neue Aktualität, als es sich erwies, dass der Westen auf einen «großen Krieg» mit konventionellen Waffen in Europa nicht vorbereitet ist, was dessen Reaktion auf die militärische Sonderoperation der russischen Streitkräfte in der Ukraine bestätigt). Als gegenwartsbezogen wird heutzutage auch seine Konzeption wahrgenommen, demgemäß das Wettrüsten den Charakter eines „technologischen Manierismus“ annimmt. (Es gilt für unsere strategischen und anderen Waffensysteme der letzten Jahre, deren Entwicklung Präsident Wladimir Putin am 1. März 2018 angekündigt hat). Baudrillards Theorien sind am besten dazu geeignet, die aktuelle geostrategische Lage, ihre Dilemmas und Gebote zu beschreiben bzw. zu erklären.

Insgesamt geht es darum, die postmoderne virtuelle Existenz des Westens und der Welt zu überwinden und sich der Neomoderne, d. h. der Realität und den Fakten, zuzuwenden. Russland wirkt mit seiner Politik wie ein effizienter Katalysator solch einer Transformation der Weltentwicklung und somit deren Befreiung von der anhaltenden und hemmenden Dominanz der USA bzw. des Westens in der Weltpolitik, Wirtschaft und Finanzen.

Fünftes. Anders als manche glauben machen, bildet gerade der Liberalismus mit seiner Unifizierung und Gleichmacherei – und nicht der traditionelle Konservatismus - die Grundlage für den Totalitarismus, einschließlich den Faschismus und Nazismus2. Das zeigte der Bürgerkrieg in den USA 1861−1865. Davon zeugt auch die Krise des modernen Liberalismus, die in den Vereinigten Staaten am deutlichsten sichtbar wird. Der Liberalismus verkommt zu einer regelrechten totalitären Diktatur liberaler Eliten, die sich gegen die Mehrheit der Wählerschaft stellen. Dabei bekennen sich die meisten US-Bürger mit gesundem Menschenverstand zu traditionellen konservativen Werten, einschließlich der Familienwerte, trotz des offiziell unterstützten, enormen Drucks der LGBT-Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang sei an Orwells Mahnungen und prophetische Visionen Dostojewskis in seinen Besessenen sowie in der Legende vom Großinquisitor erinnert. In ihren Werken warnten sie vor den verhängnisvollen Übeln der europäischen Zivilisation, die in deren Weltbild und politischer Kultur tief sitzen.

Amerika wurde von protestantischen Fanatikern, Anhängern von Calvin, gegründet. Dreißig Jahre nach der Englischen Revolution und der Restauration wurde für sie auf den Britischen Inseln infolge der Regelung innenpolitischer Kontroversen nach der so genannten Glorreichen Revolution von 1688-1689 „keine Stätte gefunden“. Zu dieser Zeit geschah in England ein Staatsstreich. Wilhelm von Oranien wurde auf den Thron berufen. Er kam ins Land mit seinen Truppen, besetzte London und begann die Reformen, in deren Verlauf die protestantischen Fanatiker gezwungen waren, nach Amerika zu übersiedeln. Sie erklärten sich zum auserwählten Volk (obwohl dieser Platz im Christentum schon besetzt ist), priesen Kapitalgewinne und geschäftlichen Erfolg als Gottes Gnade und verweigerten das Recht aller anderen Völker auf Erlösung und sogar auf Leben. Daraus ergaben sich die Vision «einer Stadt auf dem Hügel» als Verkörperung des Reiches Gottes auf Erden und der Anspruch auf die Exklusivität von Amerika. Später (insbesondere in der Nachkriegszeit) geriet die Exklusivitätsidee in Widerspruch zur Konzeption von Universalität amerikanischer Werte und dementsprechend zur imperialistischen Politik der USA, die von den Vereinigten Staaten seit des 19. Jahrhunderts betrieben wird. Dieser Widerspruch kennzeichnet die außenpolitische Tätigkeit der Vereinigten Staaten auch in der Nachkriegszeit. Während der Präsidentschaft von Andrew Jackson aber wurde diese Kontradiktion durch die Staatsdoktrin des Isolationismus aufgehoben, die dem traditionellen amerikanischen Bewusstsein viel näherstand. A. Jackson ging davon aus, dass die USA auf die Welt vor allem durch ihr Beispiel einwirken sollen.

Diese Richtlinie wurde von Donald Trump fortgesetzt, der den Schwerpunkt auf die Wiederherstellung nationaler Wettbewerbsfähigkeit legte und sich die Welt als eine «Welt starker souveräner Staaten» vorstellte, die miteinander konkurrieren bzw. wetteifern, was mit unserem Konzept der Multipolarität in vieler Hinsicht korrespondiert. Dabei ging es eigentlich um die Entmilitarisierung der nationalen Sicherheitsdoktrin, die als Erbe des Kalten Krieges angesehen wurde. Dies wurde im Grunde genommen von Experten bereits seit der Obama-Ära befürwortet. So sprach Admiral A. Mullen, der damalige Vorsitzende des Ausschusses der Stabschefs der Vereinten Staaten (Chairmann oft he U.S. Commitee of Chifs of Staff), von der Notwendigkeit, am «nation building at home» zu arbeiten. Die Globalisierung wurde als Irrweg beurteilt, da sie von den Interessen der Investitionsklassen angetrieben wurde und zur Vernichtung der Mittelschicht (genauer gesagt der weißen Bevölkerung Amerikas) führte. Als Hauptnutznießer der Globalisierung wurde China genannt, das amerikanische bzw. westliche Investitionen, Technologien und sogar Märkte für seinen «friedlichen Aufstieg» ausnutzte. Gemäß der außenpolitischen Tradition der Nachkriegszeit wurde es zum «Feind Nummer eins» (und zum «Reich des Bösen») diffamiert, den es nach der Logik der «Falle des Thukydides» präventiv zu bekämpfen galt. Die Coronavirus-Pandemie hat den Trend zur Entglobalisierung nur noch verstärkt, dem sich Russland angeschlossen hat, indem es unter dem Druck der westlichen Sanktionen den Kurs auf souveräne Selbständigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit einschlug.

Russland wurde aus diesem schwarz-weißen Weltbild ausgeschlossen, denn viele Vertreter der konservativen Kreise betrachten es als potenziellen Partner in der «trilateralen Diplomatie» (die USA – Russland – China). Kissinger schuf zu seiner Zeit die Grundlage für derartige Diplomatie, als er die Zusammenarbeit mit Peking auf antisowjetischer Basis ausgebaut hatte. Heute geht es um eine ähnliche Partnerschaft mit Russland, um unter anderem es nicht zuzulassen, dass Chinas Wettbewerbsfähigkeit durch unser Sibirien, den Fernen Osten und die Arktis gestärkt wird.

Sechstens. Den antirussischen Kurs Washingtons, der in dem ukrainischen Projekt und seiner gegenwärtigen Verschärfung gipfelte, kann man nicht verstehen, ohne dass man die innere Lage im heutigen Amerika analysiert hat. Nach der kurzen konservativen «Revolution» Trumps (Vielleicht war es die Zukunft, die einen Schatten wirft, bevor sie kommt?) haben die von der Demokratischen Partei angeführten, liberalen Eliten wiederum die Oberhand im Land gewonnen. Bereits unter der demokratischen Regierung von Präsidenten B. Obama hat Washington auf eine aggressiv-nationalistische Umgestaltung und sogar Nazifizierung der Ukraine gesetzt, um die Existenz Russlands zu gefährden und seine Identität und Geschichte in Frage zu stellen bzw. zu revidieren. Gleichzeitig zielten sie darauf ab, die Bedeutung und Wichtigkeit des Großen Sieges, der das moralische und geistige Fundament des heutigen Russlands bildet, zu relativieren, die Sowjetunion als Aggressor zu diffamieren und dem faschistischen Deutschland gleichzustellen, um somit  den Nationalsozialismus als spezifisches Produkt der westlichen Zivilisation zu rehabilitieren. Nach den US-Präsidentschaftswahlen 2020, die die Demokraten gewonnen hatten, wurde dieser Kurs noch mehr verstärkt.

Seit Ende der siebziger Jahre begannen Durchschnittseinkommen amerikanischer Haushalte zu stagnieren. Anfang der achtziger Jahre haben die US-Eliten einen Kurs auf Deregulierung eingeschlagen, der darauf ausgerichtet war, den Kapitalismus der dreißiger Jahre, d.h. der Zeiten vor der Großen Depression, unter neuen Bedingungen bzw. in einem neuen Umfeld wiederherzustellen. Im Jahr 2000 wurde das Glass-Steagall-Gesetz, das den Finanzsektor regulierte, endgültig außer Kraft gesetzt. Die Globalisierung hat die Situation noch mehr verschärft. Im Endeffekt bedeutete dieser Crashkurs: die Finanzialisierung der Wirtschaft, die Schwächung der Mittelschicht und die Stagnation der Konsumnachfrage nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in der Europäischen Union. All dies führte zur globalen Finanzkrise von 2008. Bis heute ist es nicht gelungen, diese Krise zu bewältigen, obwohl die traditionellen makroökonomischen Regulierungsressourcen praktisch schon erschöpft sind. Die herrschenden kosmopolitischen Eliten, die vom nationalen Boden entwurzelt sind, entfernten sich von Interessen des Großteils der Bevölkerung. Auf politischer Ebene haben sich die beiden großen politischen Parteien einander angenähert. Die Politik wurde im Wesentlichen alternativlos und der Wahlsieg hing fast ausschließlich von der Wirksamkeit der politischen Technologien ab. Dies hat das Vertrauen der Wähler in die Eliten zerstört, die ihrerseits unter dem Banner der politischen Korrektheit gegen die Meinungsfreiheit auftraten. Dabei wurde der Kampf gegen abweichende Meinungen mithilfe der von Regierung gesteuerten konventionellen Medien ausgetragen.

Die Präsidentschaftswahlen 2020 markierten einen Wendepunkt in der amerikanischen Innenpolitik. Die liberalen Eliten, die von Trump gelernt haben, ihre Wähler über soziale Netzwerke anzusprechen, griffen auf unlautere Methoden und Mittel wie Betrug und Fälschung zurück. Massiv wurde die E-Mail-Stimmabgabe praktiziert. Die Demokraten stützten sich vor allem auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen − Afroamerikaner und andere ethnische Minderheiten. An die Öffentlichkeit wurden solche ideologischen Produkte wie «Kultur der Abschaffung», «kritische Rassentheorie» etc. lanciert, die nur den Interessen des neuen Regimes und seiner sozialen Basis Rechnung tragen. Was die weiße, einheimische Bevölkerung anbetrifft, so wurde sie aufgefordert, die neuen Werte als «fortschrittliche Weiterentwicklung» der traditionell konservativen Werte anzunehmen.

Im Grunde genommen fand eine neue, ultraliberale amerikanische Revolution statt, die in ihrer Radikalität und ihren Methoden der bolschewistischen Revolution ähnelte. Die Rolle des Anführers spielte dabei die "progressiven Intellektuellen", wie es bei uns vor 100 Jahren der Fall war. In Bezug auf Trumps "Revolution" geht es um eine Konterrevolution und einen konservativen Prozess, der von den Eliten initiiert wurde, um die Dominanz des Liberalismus aufrechtzuerhalten.  Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn man die nationale Identität neu formt und die Geschichte umschreibt, das heißt, wenn man das Band der Zeit zerreißt und die historische Kontinuität abbricht.

Es handelt sich um eine neue und wohl entscheidende Phase eines Prozesses, den amerikanische Politikwissenschaftler als «Kulturrevolution» und «Nicht-Bürgerkrieg» bezeichnen, dessen Anfang auf die Präsidentschaft von B. Clinton (1992−2000) fällt.  Besonders wichtig ist in dieser Situation, dass die weiße, überwiegend angelsächsische und protestantische Bevölkerung in absehbarer Zeit ihre Mehrheit in den USA verlieren wird. Die Umstände erfordern einerseits drastische Maßnahmen innerhalb des Landes, einschließlich der Zensur sozialer Medien, und anderseits die Legitimierung der Innenpolitik als Teil eines globalen Trends, d. h. als Teil einer ultraliberalen «Weltrevolution». (Es sei daran erinnert, dass die Bolschewiki anfangs auch nicht daran geglaubt hatten, dass sie allein, d.h. ohne «Weltrevolution», auf die Dauer an der Macht bleiben können). Im Zuge der Ukraine-Krise kam F. Fukuyama auf die Idee des «sozialen Liberalismus» als Möglichkeit für den Liberalismus, auf nationalem Boden Fuß zu fassen, was stark an den Nationalsozialismus in einem modernen Gewand erinnert und einem Versuch gleicht, den Nationalsozialismus/Neo-Nazismus in der Ukraine und im heutigen Europa zu rehabilitieren.

Das Problem der Identität und Geschichte ist für den Westen im Hinblick auf die höchst umstrittenen Ergebnisse der Globalisierung und der neoliberalen Wirtschaftspolitik besonders akut. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik kann nach Meinung unabhängiger Politikwissenschaftler als "Konterrevolution" in Bezug auf den "Gesellschaftsvertrag" der Nachkriegszeit mit seiner sozial ausgerichteten Wirtschaft betrachtet werden. Dazu kommen noch die Widersprüche zwischen kosmopolitischen Eliten und der in ihren Ländern und Regionen angesessenen Bevölkerung, die sich bei einem bestehenden Arbeitskräfteüberschuss mit der Zunahme der Migration verschärfen.

Gleichzeitig behält der Traditionalismus seinen Einfluss auf die Eliten wie auch auf ihre außenpolitische Philosophie und Instinkte. Es geht dabei um solche Reste imperialen Denkens wie die Absicht, den Status einer Atommacht zu erhalten (Großbritannien und Frankreich) und den Wunsch, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen (Deutschland und Japan), oder um den Anspruch auf die Rolle eines „Reiches der Mitte“ in der Weltarchitektur, welche einst dem alten China zukam.(die USA). Wie der britische Rundfunksprecher J. Paxman treffend bemerkte, will Großbritannien das bleiben, was es in der Ära des Empire war, «nur in einer reduzierten Form». Die amerikanischen Eliten haben wohl ähnliche Wünsche, obwohl in den USA auch andere Zukunftsvisionen zur Auswahl stehen, z. B. der traditionelle Isolationismus. Auf jeden Fall spielt die Geschichte wenn auch in unterschiedlichem Maße eine wesentliche Rolle für alle Länder. Der führende politische Beobachter der Financial Times G. Ruckman versucht beispielsweise, Lehren aus dem Brexit zu ziehen, und ordnet das Vereinigte Königreich und Russland in die Kategorie der "historischen Mächte" ein, die dementsprechend zu behandeln sind, nämlich man soll sie entweder in das internationale System zu akzeptablen Bedingungen integrieren oder bereit sein, sie einzudämmen bzw. sich ihnen entgegenzusetzen. Washington scheint die zweite Variante gewählt zu haben.

Siebtens. Die antirussische Politik Washingtons unter allen Regierungen (mit unterschiedlichem Grad an Illusionen und verheerenden Folgen sowohl für Amerika als auch für seine internationale Position) wurde durch diese interne, komplexe Krise samt deren Herausforderungen geprägt. Mit der Beendigung des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der UdSSR hat der Westen an frischer Luft gewonnen, denn mit dem Wegfall dieser Gegebenheiten entstand ein Trugbild einer Welt ohne alternative Ideen und Entwicklungsmodelle. Während der nachfolgenden 30 Jahre zeigte sich allerdings die Tendenz zur Bildung einer multipolaren Weltordnung, die durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und die Wiederauferstehung Russlands als Weltmacht feste Formen nahm. Das wirkte auf den Selbstwert bzw. Selbstvertrauen der westlichen Eliten nachteilig aus, besonders stark wurde davon solch ein sensibler Bereich wie Machtpolitik betroffen. (Krim, Donbass und Syrien).

Vor diesem Hintergrund hatte man es unter Obama vor, zwei Handels- und Wirtschaftsblöcke im Westen und Osten, nämlich die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft und die Transpazifische Partnerschaft, zu bilden. Diese Blöcke sollten die Dominanz des Westens auf dem Gebiet Weltpolitik, Wirtschaft und Finanzen im neuen historischen Kontext absichern und gleichzeitig Russland und China aufhalten. Man beabsichtigte, damit eine Art von Bollwerken des Westens zu errichten. Diese Pläne wurden aber von der Trump-Administration gestrichen. Damit war die Chance vertan. In Gegensatz dazu hatte Peking es darauf angelegt, gestützt auf der ASEAN eine umfassende regionale Wirtschaftspartnerschaft unter seiner Ägide in der asiatisch-pazifischen Region zu schaffen. In Europa hingegen wurde das Vertrauen in die «amerikanische Hegemonie» ernsthaft erschüttert. Infolgedessen wurde dort Ende November 2019 das Investitionsabkommen zwischen der EU und China paraphiert. Der westliche Konsensus bei der Verhängung der antirussischen Sanktionen wegen der Ereignisse in der Ukraine ist deshalb als eine Art Rache für diesen geopolitischen «Fehler» Trumps anzusehen.

Mit Biden im Weißen Haus machten sich die Amerikaner daran, ihr informelles globales Imperium zu „reparieren“. Dabei verließen sie sich nicht länger auf eine „automatische“ Ausweitung ihrer Kontrolle über die Welt (sogar Kissinger gab den Irrtum dieses primitiven Herangehens indirekt zu). Sie hofften darauf, dass eine aggressive Eindämmung Chinas und Russlands sowie die Wiederherstellung ihrer geostrategischen Hochburgen in den euro-atlantischen und asiatisch-pazifischen Regionen ihnen erneut „frischen Wind in die Segel“ blasen werden. Die Herausforderungen in der westlichen Politik sind stark gestiegen und nahmen den Charakter der existenzbedrohenden Risiken an. Es wurde anerkannt, dass dem Westen die Gefahr eines «Zweifrontenkrieges» droht, den Deutschland zweimal in seiner Geschichte, u. z. unter dem Kaiser und unter Hitler, verloren hatte. Heutzutage vereinten sich zwar die westlichen Eliten mit Deutschland und Japan unter amerikanischer Besatzung und politischer Kontrolle, jedoch ist die Welt multipolar geworden.

Achtens. In der Nachkriegszeit entwickelte sich in den Vereinigten Staaten eine aggressive, im Wesentlichen imperiale außenpolitische Philosophie von grand strategies. Das Ruder übernahmen diesmal solche Politologen, die man in der Regel als «Jungtürken» zu nennen pflegt (wie Jake Sullivan, Wess Mitchell und andere Vertreter der berüchtigten Marathon-Initiative). Sie machten die vorherige Generation der Politikwissenschaftler für die «Niederlage» bei der Konfrontation mit Peking und Moskau (auch in der Ukraine) verantwortlich. Sie kamen mit eigenen Vorstellungen davon, wie man die Dinge richtigmachen könnte, und haben entsprechende «große Strategien» zur Realisierung dieser Pläne ausgearbeitet. So verfasste W. Mitchell eine Strategie zur «Vermeidung eines Zweifrontenkrieges» (in seiner Terminologie: das Problem der «Gleichzeitigkeit» zweier Kriege), da die Ressourcen Amerikas es nicht zulassen, solch einen Krieg zu führen. Sie wollen zuerst Russland als einen „schwachen“ Gegner in der Ukraine „besiegen“, um unsere «Expansion» in den Westen zu stoppen. (Offensichtlich meinen sie damit, uns daran zu hindern, unsere Position im postsowjetischen Raum und unsere Beziehungen zur EU, insbesondere zu Deutschland, zu stärken.) Nach dessen Bekämpfung soll man Moskau zwingen, sich gen Osten zu wenden, um sich an der Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens zu beteiligen. Dabei braucht man gar nicht den russischen Waffenlieferungen z. B. an Indien entgegenzuwirken.

Von derartiger Strategie lässt sich allem Anschein nach die Biden-Regierung leiten. Zuerst präsentierte aber Mitchell, seinen eigenen Worten zufolge, dieses Programm an dem Pentagon im Herbst 2020, also bei Trumps Administration, nachdem er ein Jahr zuvor als stellvertretender Außenminister zurückgetreten war. Als die militärische Sonderoperation der russischen Streitkräfte in der Ukraine begann, erklärten die USA ganz offen, dass sie sich dabei das Ziel gesetzt haben,  uns in der Ukraine eine «strategische», wenn nicht sogar militärische Niederlage zu bereiten, um unser Land nachhaltig zu destabilisieren bzw. zu schwächen und auf diese Weise dazu zu nötigen, die westlichen Interessen zu respektieren.

Die Amerikaner sind bestrebt, es nicht zuzulassen, dass sich Russland in dessen Vorwärtsbewegung im Bereich der Ideologie, Bildung und etc. nicht mehr nach dem westlichen Koordinatensystem orientieren wird. Vor allem sind sie aber darauf aus, die Internationalisierung des Rubels zu verhindern. Dies ist ja der einzige Weg, sich vom Westen loszulösen und unsere Beziehungen auf der Grundlage echter Souveränität und Gleichberechtigung neu zu gestalten. Eben dieses Problem, das im Laufe eines ganzen Jahrhunderts sich nicht beseitigen ließ, war die Ursache tiefer Abhängigkeit der Sowjetunion vom Westen und deren mangelhafter Souveränität. Daraus ergibt sich die wahrhaft historische Bedeutung unserer Konfrontation mit dem Westen in der Ukraine, deren Ergebnisse das Schicksal der Ukraine, Russlands, des Westens (insbesondere der USA und Europas) und der Welt entscheiden würden.

Neuntens. Die Geschichte zeigt, dass die Unterschiede im Wesen unserer und der westlichen Identität in besonderem Maße zu Tage treten, wenn wir der westlichen Aggression widerstehen, sei es im Nordischen Krieg unter Peter dem Großen, oder beim Einrücken von Napoleons Truppen in Russland und Überfall Nazideutschlands auf unser Land. Es ist daher logisch, das, was zurzeit in der Ukraine geschieht, als einen neuen Großen Vaterländischen Krieg zu betrachten, der Opfer und die Mobilisierung aller Ressourcen erfordert, obwohl unsere Sonderoperation einen präventiven Charakter trägt und eher einem konventionellen «Krieg auf fremdem Territorium und mit wenig Blut» ähnelt. Gleichzeitig können wir eingedenk dessen Auswirkungen auf die Weltordnung von einem dritten Weltkrieg sprechen, den wir in einem begrenzten Raum und hauptsächlich in einer hybriden Form führen, wenn auch mit der Aussicht auf eine Eskalation bis hin zum Einsatz taktischer Kernwaffen in Europa. Die westlichen Analytiker erkennen unsere Überlegenheit in der Machtpolitik (sowohl die technologische als auch in Bezug auf die Entschlossenheit und Bereitschaft, Kampfverluste zu ertragen, sowie hinsichtlich der Fähigkeit, Städte und Festungen zu erobern). Im Vergleich dazu ist der Westen nicht bereit, einen "großen Krieg" in Europa zu führen. Zudem fürchten sich die westlichen Staaten vor einer nuklearen Eskalation, was das westliche Bündnis zu spalten droht, das in den letzten Monaten angesichts der Konfrontation mit Russland mit so viel Mühe und Opfern geschmiedet wurde.

Diese Situation wird als «Falle in der Falle» oder als eine Gegenüberstellung der fatalen Strategie und der banalen bezeichnet. Washington hoffte darauf, dass es ihm gelingen wird, uns zu provozieren, in die Ukraine einzurücken, wo wir feststecken würden und letztendlich gezwungen wären, abziehen zu müssen, ohne unsere proklamierten Ziele erreicht zu haben, wie es in Afghanistan schon der Fall war. Gleichzeitig geriet der Westen selbst in die Falle, durch die Möglichkeit verlockt, einen „infernalischen“ Sanktionsdruck (in diesem konkreten Fall durch das Einfrieren unserer Gold- und Devisenressourcen) auf unser Land auszuüben. Dadurch wurde die Grundlage dessen globalen Vorherrschaft unterminiert. (Das westliche System verliert nämlich sein grundlegendes Merkmal, d. h. die Universalität, die sogar während des Kalten Krieges erhalten geblieben war. All das zeugt von einer völlig neuen Qualität der Konfrontation und der Risiken, die den Westen bedrohen). Die westliche Sanktionspolitik zeigte auch das Ausmaß unserer Handels-, Wirtschafts- und monetären Interdependenz, insbesondere im Energiesektor und teilweise bei der Versorgung mit Mineraldünger und Nahrungsmitteln. (Was die Nahrungsmittel anbelangt, so wurde ein Teil entsprechender Ressourcen der Ukraine wegen der Sonderoperation der russischen Streitkräfte in den Handelsverkehr nicht gebracht). Die Auswirkungen der antirussischen Sanktionen treiben die Inflation und die Lebenshaltungskosten in die Höhe und verschärfen noch zusätzlich die soziopolitischen Spannungen in den westlichen Ländern. Dadurch bekommen wir ein wirksames Mittel, deren innerstaatliche Lage durch die Anwendung von handelspolitischen und wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen zu beeinflussen.

Der westliche Blitzkrieg gegen Russland ist gescheitert, während der unsere (jedoch auf dem wirtschaftlichen Gebiet) noch durchaus möglich ist. Bei der Feststellung und Umsetzung strategischer Ziele gehen wir davon aus, dass die Zeit für uns arbeitet. Die amerikanische Politikwissenschaft bezeichnet solch eine Situation mit dem Satz: «Wer blinzelt als erster?» Die Zeit, die zu einem entscheidenden Faktor wird, sowie die innenpolitische Stabilität geben uns dabei zusätzliche Vorteile. Dazu kommt noch, dass die USA infolge ihrer „banalen“ Gambits den Krieg an zwei Fronten führen müssen. (wie Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg). Schließlich hat China aufgrund der Verwicklung des Westens in den Konflikt mit Russland die Handlungsfreiheit bekommen, um das Taiwan-Problem mit Gewalt zu lösen und damit den Hauptgrund für die Eindämmung seitens der USA aus dem Wege zu räumen.

Immer deutlicher in seinen Dimensionen wird vor diesem Hintergrund der mögliche Zerfall des gesamten außenpolitischen Nachkriegskonstrukts der USA und Europas, einschließlich der G7, der NATO, der EU, verschiedener  politisch-militärischer Bündnisse, des IWF, der Weltbank, der WTO und anderer Institutionen. Mit Rücksicht darauf nimmt die Bedeutung des UN-Systems für den Westen  zu, der sich in einer schwachen Position befindet und gezwungen ist, sich auf das Völkerrecht zu berufen (in diesem Sinne haben wir die Rollen gewechselt), was den Fortbestand der UNO auch in Zukunft sichert. Das G20-Gipfelformat gilt auch als letztes Reststück der bestehenden Weltordnung und als Mittel zu ihrer reibungslosen Umgestaltung. Die Alternative für solche Entwicklung ist Chaos, d.h. die Unübersichtlichkeit, die einem Alptraum für die westlichen Eliten und insbesondere für die Amerikaner gleichkommt, die jede Situation, die sie nicht kontrollieren, aus der Fassung bringt, selbst wenn diese Kontrolle illusorisch ist (dies ist eines der Merkmale der amerikanischen politischen und strategischen Kultur der Nachkriegszeit).

Zehntens. Ausgehend von Entwicklungen der letzten Jahre (ab Obamas zweiter Amtszeit) gelangt man zur Erkenntnis, dass die bestehende geopolitische Situation in die Phase eines Endspiels eintritt. Für die allseitige Auswertung diesbezüglicher Veränderungen in der weltpolitischen Lage (auch vom geschichtlichen Standpunkt aus) gilt es, einen weiten Rahmen zu bilden, um alle Möglichkeiten für derartige Analyse einzubeziehen. Dabei geht es insbesondere um die Anwendung angemessener kognitiver Werkzeuge, die den aktuellen Interessen der nationalen Sicherheit Russlands entsprechen, den Prognosen einen realistischen Charakter zu verleihen, um sie bei der außenpolitischen Planung umsetzen zu können. Es gilt auch, die Ziele der Außenpolitik Russlands in solchen Schlüsselbereichen wie die Gestaltung unserer Beziehungen zu den USA und zum Westen unter Verwendung  moderner Kategorien des politischen und philosophischen Denkens klar und begründet zu erläutern, was einen wichtigen Faktor für den Erfolg unserer öffentlichen Diplomatie und unserer Tätigkeit im internationalen Informationsraum darstellen würde.

 

 

  1. Peter Multatuli, Rossiyskaya imperiya i zapadnyye soyuzniki v gody Pervoy mirovoy voyny: ot popytok voyennoy izolyatsii do uchastiya v Fevral'skom perevorote 1917 goda [Das Russische Reich und die Westalliierten im Ersten Weltkrieg: Von Versuchen der militärischen Isolation bis zur Teilnahme an der Februarrevolution von 1917] // Meshdunarodnaya zhiz`n. 2022. Num. 2. S. 104−121.
  2. A. Fenenko, Istoki Tret'yego reykha [Ursprünge des Dritten Reiches] // https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/analytics/istoki-tretego-reykha/

 

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