Russische Sprache im globalen Sprach- und Kulturraum

15:48 25.04.2023 • Wladimir Egorow , Erster stellvertretender Direktor des Instituts für GUS-Staaten, Leiter des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Transportgeopolitik an der Russischen Universität für Transportwesen, Doktor der Geschichtswissenschaften, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, Professor ; Wladimir Stol , Professor des Lehrstuhls für internationale Beziehungen an der Diplomatenakademie des Außenministeriums der Russischen Föderation, Doktor der politischen Wissenschaften, Professor

Russisch rangiert mit 258 Millionen russischsprachigen Menschen an der achten Stelle nach dem Englischen, Chinesischen, Hindi, Spanischen, Französischen, Arabischen und Bengalischen.

In Anbetracht deren Verbreitung im globalen Sprachraum aber steht die russische Sprache nur dem Französischen, Englischen und Indonesischen nach. Auf jeden französischen Muttersprachler kommen
3,5 Französisch sprechende Menschen/Nutzer, auf jeden Englischsprachigen – 3,3 Menschen, die Englisch als Fremdsprache beherrschen, auf jeden indonesischen Muttersprachler – 2,9 indonesischkundige Nutzer. Die Verbreitung des Russischen ist mit der des Deutschen vergleichbar (auf einen deutschen Muttersprachler kommen 1,7 Menschen, die Deutsch erlernt haben und auf einen Russischsprachigen – 1,67 Menschen, die Russisch als Fremdsprache benutzen).

Die zivilisatorische Mission der russischen Sprache

Jede Sprache (einschließlich eines kleinen Volkes) verfügt über ihr „selbstwertiges“ Potenzial, über die nur ihr eigenen Mittel und Möglichkeiten, deren Verlust für die Menschheit unersetzlich bleibt. Mit dem Aussterben einer Sprache verliert die Zivilisation eine unschätzbare Kulturschicht. Der UNESCO-Weltatlas der gefährdeten Sprachen enthält 2464 vom Verschwinden bedrohte Sprachen, die als Muttersprache momentan nur von einigen duzend Menschen gesprochen werden. Die Welt erkannte die Gefahr des Artensterbens und unternimmt große Anstrengungen, um die biologische Vielfalt auf unserem Planeten zu schützen. Der Verlust der Identität und Kultur der Völker, zu denen auch die Sprache gehört, bedeutet jedoch ein nicht minderer, wenn nicht größerer Verlust für die planetarische Zivilisation.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die Entwicklung der Sprachen nicht nur die Zyklizität von „Aufstiegen und Niedergängen“ der Nationen und Zivilisationen widerspiegelt, sondern auch das Ausmaß deren kulturellen Ausdehnung auf die globale Landschaft zum Ausdruck bringt. Als Amtssprache eines riesigen Kolonialreichs hat das Englisch seine Vorrangstellung im kulturellen Prozess weltweit behauptet. Es gilt als offizielle Sprache in den Vereinigten Staaten, diesem florierenden „Splitter“ des kolonialen Herrschaftsgebietes, und beansprucht insoweit das Vorrecht für sich, als eine Universalsprache anerkannt zu werden. Viele Jahre lang besaßen Spanien und Frankreich führende Positionen in der Welt, was zu einer weiten Verbreitung deren Amtssprachen und Kultur beträchtlichen Anteil leistete.

In diesem Zusammenhang, d.h. angesichts der Wechselwirkung zwischen dem Kolonialismus und der kulturellen Expansion von Staaten soll man die Eigentümlichkeiten imperialer Vergangenheit Russlands unter die Lupe nehmen. In einer ersten Annäherung zeigen die für die sprachliche Mobilität ausschlaggebenden Faktoren große Übereinstimmung mit der Verbreitung von Sprachen anderer Reiche, besonders was den Vormarsch der russischen Sprache anbetrifft. Solch eine Analogie ist jedoch oberflächlich und lässt die eigentlichen Treibfeder dieser Vorgänge nicht erkennen.

Das Antlitz führender Kolonialmächte prägten erhebliche Fortschritte, die sie beim Aufbau einer modernen Gesellschaft erzielten. Gestützt auf diese zivilisatorischen Errungenschaften waren die westlichen Staaten bestrebt, ihren soziokulturellen Standard auf die neu erworbenen Gebiete zu übertragen (auch durch „kulturelle Dominanz“) und diese Länder auf einen gemeinsamen kulturellen Nenner zu bringen. Im Gegensatz dazu beruhte das politische System Russlands auf einer unumschränkten staatlichen Alleinherrschaft (zaristischem Absolutismus), deren Festigung das Hauptziel der sozioökonomischen Modernisierung und Erweiterung des Staatsgebietes war. Anderenteils mangelte es der Monarchie an Geld, um ihre Macht und Herrschaft aufrechtzuerhalten. Infolgedessen hatte man es nicht vor, die kolonialen Randgebiete nach Maßgaben des russischen Kulturstandards umzubauen.

Solch ein strategisches Konzept der Metropole für die Entwicklung örtlicher Machtorgane kam bei der lokalen nationalen Elite gut an. So kritisierte der kasachische Aufklärer Walichanow in seiner „Denkschrift über die Gerichtsreform“ die russischen Behörden nicht wegen der Einführung deren gesetzlichen Regelungen, sondern, weil sie den Islam unterstützten. „Von allen Fremdvölkern, die zum Russischen Reich gehören, stehen wir – die Kirgisen – an erster Stelle, was die Anzahl, den Reichtum und vielleicht auch die Hoffnungen auf eine künftige Entwicklung angeht“, schrieb Walichanow prophetisch und betonte: „Das kirgisische Volk zählt zu den friedliebendsten und damit zu den am wenigsten wilden Fremdstämmen im russischen Reich... Außerdem sind wir als Nachkommen der Batyev-Tataren mit den Russen durch die Geschichte und sogar durch Blutbande verbunden.

Das Schicksal von Millionen Menschen, die auf eine zivile Entwicklung hoffen, Menschen, die sich als Brüder des russischen Vaterlandes betrachten und freiwillig russische Untertanen geworden sind, verdient mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge in solch entscheidenden Fragen, wo es mit Worten Shakespears um „Sein oder Nichtsein“ geht...

Bevor die Kirgisen russische Staatsangehörigkeit angenommen hatten, waren sie nur dem Namen nach Muslime und bildeten ein eigenes sunnitisches Schisma in der mohammedanischen Welt. Die Kirgisen hatten sich nie den muslimischen Gesetzen unterworfen, die erst auf Initiative der Regierung mit all den bürokratischen Fallstricken und Verknöcherungen eingeführt wurden.

Wir wissen nicht und können nicht verstehen, was die russische Regierung damit bezweckte, den Islam dort zu etablieren, wo er von der Bevölkerung selbst nicht voll akzeptiert wurde.“1

Derartiger Charakter der „kulturellen Vorherrschaft“ (nach A. Etkind) führte im Russischen Reich zu solch einer Form ethnisch-kultureller Integration, bei der „die Einheit nicht in der Einheit des Gleichen, sondern in der Einheit des Vielfältigen und Vielverschiedenartigen“2 bestand.

Im Rahmen des historisch herausgebildeten Modells des Multikulturalismus diente die russische Sprache nicht als Mittel für kulturelle Herrschaftsausübung, sondern als ein Integrator des soziokulturellen Raums, in welcher Eigenschaft sie auch im postsowjetischen Russland mehr oder weniger effektiv weiter fungiert. Überdies wurde die russische Sprache selbst zum Rezipienten der lexikalischen Entlehnungen.

Auf Grund rechtlicher Gegebenheiten zaristischen Absolutismus zählte die gesamte Bevölkerung Russlands – sowohl in der Metropole als auch in den Randgebieten – zu den subalternen Schichten und Gruppen. Infolgedessen nahmen die zur intellektuellen Elite gehörenden russischen Schriftsteller als Hüter und Schöpfer der Sprache, ihre Bilder, Motive und Themen nicht nur aus dem Alltag russischer Bauern, sondern auch aus dem Leben der Steppennomaden oder asiatischer Dehkanier.

Auf die klassische russische Literatur eingehend, in deren Mittelpunkt das Schicksal eines einfachen Mannes stand, konstatierte A. Etkind: „Diese Literatur, die von Autoren aus der sozialen Oberschicht geschaffen wurde, deren Leben sich vom Schicksal ihrer unprivilegierten Helden manchmal grundlegend, manchmal aber wenig unterschied, wurde postkolonial, lange bevor dieser Begriff in Umlauf gebracht wurde“3. Daraus folgt, dass die russische Sprache nicht nur die Nation formte. In sozialen Praktiken trat sie zugleich als Kommunikator und Konsolidator auf. Dieses neue Paradigma ging über die Sprache und über ethnische Unterschiede weit hinaus. Im Laufe der Zeit kamen die russische Sprache und Literatur als ihr materielles Medium über die einst koloniale Komponente deren „Dominanz“ hinweg, von deren universellen, allgemeinmenschlichen Inhalten haben sie dagegen auch in der modernen Welt nichts eingebüßt haben. Mit den Worten von Wladimir Putin ausgedrückt, „ist der russische Kulturkodex nach außen ausgerichtet“4.

Jahrhundertelang wirkte die russische Sprache als ein soziales Bindeglied zwischen den in einem Staat vereinten Völkern. Heutzutage erfüllt sie eine äußerst wichtige zivilisatorische Funktion als Translator des kulturellen Erbes von Völkern des gesamten postsowjetischen Raums. Was die Zukunft anbetrifft, so eröffnen sich durch die Erweiterung der Integrationsprozesse und Intensivierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit wiederum neue sprachliche und kulturelle Perspektiven sowohl für die russische Nation als auch für die Völker des nahen Auslands.

Die Bedeutung der russischen Sprache in einer sich rasch verändernden modernen Welt lässt sich aus den Ergebnissen einer Studie erkennen, die das Puschkin-Institut für die russische Sprache im Jahr 2020 erstellt hat. Wenn auch die russische Sprache nach der Anzahl der Russischsprachler im weltweiten Vergleich den achten Platz belegt, steht sie nach ihrem Status in internationalen Organisationen jedoch an der vierten Stelle. (Russisch gilt als offizielle Sprache in 15 unter 23 größten internationalen Organisationen, die in der Studie erfasst wurden). Gemessen an der Zahl der Websites im Internet kommt es auf Platz 2, und bezüglich der wissenschaftlichen Veröffentlichungen in den internationalen Datenbanken „Web of Science“ und „Scopus“ liegt es in fünfter Position. Russischsprachig sind 79 Prozent der Websites in der Ukraine, 86,9 Prozent in Weißrussland, 75,9 Prozent in Kirgisistan, 84,0 Prozent in Kasachstan, 79,6 Prozent in Usbekistan und 81,8 Prozent in Tadschikistan.

Demnach wird die russische Sprache kraft ihrer historisch bedingten Eigenschaften zum Translator von kulturellen Symbolen und Sinngehalten Russlands in die entstehende postmoderne kulturelle Lebenswelt.

In gesellschaftspolitischen und akademischen Diskursen gibt es eine Interpretation der globalen Universalität, der zufolge die Entwicklung der Zivilisation zwangsläufig in einer gesamtplanetarischen soziokulturellen Identität mündet, die die kulturellen und geistigen Traditionen von „lokalen“ Subjekten der Lebensweltgestaltung „überwindet“. Die Anhänger dieser Theorie sind der Meinung, dass alle soziokulturellen und geistigen Besonderheiten aller lokalen Zivilisationen logischerweise, d.h. im Laufe fortschreitender Entwicklung von Globalisierung und Universalismus bzw. als Ergebnis der Herausbildung einer einzigen universellen Zivilisation bald überwunden werden. Derartige allgemein menschliche Zivilisation wird in all ihren konstitutiven Komponenten für die ganze Welt einheitlich sein. Es wird angenommen, dass alle integrativen Prozesse der Neuzeit in diese Richtung tendieren.

Indessen erscheint dermaßen vereinfachtes Szenario für die Genese humanitärer Globalisierung kaum vertretbar. Ebenso wenig produktiv dürfte die Annahme sein, dass die Kultur einer einzigen Nation oder eines einzigen Staates (selbst des fortgeschrittensten) imstande wäre, eine neue planetarische Zivilisation zu erschaffen. Die Postmoderne und ihr kultureller Raum verstehen sich hingegen als eine Einheit interaktiver Vielfalt, die das Wesen und die Subjekte des Zivilisationsprozesses weder ausschließt noch hierarchisiert. Die russische Sprache übernimmt in dieser komplexen Einheit aufgrund der ihr eigenen Besonderheiten und ausgehend vom Reichtum der Kultur Russlands, deren Trägerin sie ist, die Funktion eines Translators und Moderators.

Im Hinblick auf die kommende Einheit, die eine dialektische Komplexität des Globalen und des Lokalen, der planetarischen Kulturgemeinschaft und der nationalen geistigen Identität darstellen wird, entwickelt sich die russische Sprache als „eine Schöpfung der Nation“ zu „einer Kraft, die die Nation schöpft“. Mit den Worten von Wladimir Putin ausgedrückt, „bedeutet die russische Sprache für unser Land viel mehr als nur ein Kommunikationsmittel. Sie vereint alle Völker Russlands, ist die Grundlage unserer nationalen Identität, unser großes Erbe, einzigartig in seiner Bildhaftigkeit, Klarheit, Präzision, Ausdruckskraft und Schönheit“5.

Unter Berücksichtigung neuer sozialer Gegebenheiten wird die russische Sprache somit zur Grundlage zweier dialektisch entgegengesetzter Tendenzen: zum einen als materieller Träger der sich entwickelnden nationalen Kultur (wie jede andere Sprache der Welt), und zum anderen als Quelle universeller kultureller Ganzheit, die sich im Zuge der Etablierung von Welt der Postmoderne herausbildet.

Russisch im Koordinatensystem der gegenwärtigen Welt

Das Potenzial der russischen Sprache in der Architektur der globalen Postmoderne ist davon bedingt und abhängig, inwieweit erfolgreich sich ihre Akkomodation und Entwicklung im Kontext der wachsenden Dynamik des kulturellen Prozesses vollzieht.

Aus diesem Blinkwinkel betrachtet gewinnen zwei Hauptprobleme zunehmend an Bedeutung: erstens die Beibehaltung des Status der russischen Sprache als Aggregators der nationalen geistigen Kultur und zweitens die Stärkung deren Rolle bei der Mehrung traditioneller Werte Russlands.

Zur gegenwärtigen Zeit zeichnet sich das kulturelle Umfeld durch vielfältige und mitunter konträre Neuschöpfungen und Trends aus. Beim Fehlen einer einheitlichen Trägerstruktur könnte eine solche Inkretion innerhalb des nationalen geistigen Kulturraums negative Auswirkungen haben, wie etwa dessen unkonstruktive Strukturierung, als auch Hierarchisierung und Entstehen von mit kultureller Identität nicht übereinstimmenden Neubildungen. Solche Fehlentwicklungen sind vor allem im Jugendmilieu zu beobachten, wo alle möglichen Subkulturen – Hipster, Vanillas, Hallyu, Gruftis, Emo, Gamer, Freaks usw. – leicht Fuß fassen.

Der zweite Zielbereich der russischen Sprache scheint nicht weniger wichtig zu sein. Dabei kommt es vor allem darauf an, deren weitere Entfaltung und Vervollkommnung im Rahmen traditioneller Symbole und Sinngehalte abzusichern und die Leitplanken zu errichten, die die nationale Kultur vor Eindringen fremder, russische Wörter unnötigerweise ersetzender Vokabeln schützen sollen. Die Welle solcher sprachlichen Metamorphosen nimmt mit der Informatisierung des sozialen Raums zu. Massenhaft breiten sich die Wörter der „neuen Sprache“ aus, die die Lexemen der Landessprache nicht schlechthin ersetzen, sondern nur einem engen Kreis ihrer Nutzer verständlich sind.

Während Corona-Pandemie waren solche Phrasen wie: „public-talk der Influencer online“, „verfeedbacken und sich verthinken“, „sich zoomen“ etc. recht weit verbreitet. Nach Berechnungen von Experten sind allein in den letzten drei Jahren 329 aus dem Englisch entlehnte Wörter in die russische Sprache eingegangen und werden zurzeit in 12 wichtigen Lebensbereichen gebraucht, davon 23,5 Prozent im Bildungsbereich (Mentoring, Coaching, Training, Tutor usw. – insgesamt 77 Wörter). An zweiter Stelle steht der Bereich Handel und Dienstleistungen (Outlets, Boni, Barbershop, Parking usw.), an dritter Stelle das soziale Umfeld mit Haters, Tiktokern, Community und Ageism und an vierter Stelle der Bereich Information (Upgrade, Interface, Copyright, Usability usw.).

Die Transformation der Kulturlandschaft, die die globalen Trends widerspiegelt, erfordert eine Art Navigation im „brausenden Meer des Wandels“. Solch ein Lotse wäre auch für den sprachlichen Bereich vonnöten, wo auch strategische Leitlinien dringend gebraucht werden. Die Erstellung eines kulturellen „Logbuches“ ist die Aufgabe des Staates, dem es obliegt, durch die Vorgabe wichtiger Wertmaßstäbe – und nicht durch Verbote – eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die auf den Erhalt der nationalen Identität gerichtet ist.

Es ist erfreulich, dass Soziologen eine „Rückkehr der russischen Sprache zur literarischen Norm“ konstatieren, was von der kulturellen „Wiedergeburt“ der russischen Nation nach den schweren Zeiten in den 1990er Jahren zeugt.

Das Fehlen klarer Leitlinien für die Entwicklung der Sprache führt in der Regel zur Schrumpfung des kulturellen Raums, in dem diese Sprache funktioniert. In der Übergangszeit sind alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verschärfter Konkurrenz ausgesetzt, wodurch das linguistische Potenzial der kulturellen Attraktivität eines Landes beträchtlich geschwächt wird. Die Rivalität im Bereich der Kultur und Sprache, die die Form einer direkten Konfrontation annimmt, wird dadurch angekurbelt, dass die sprachliche Dominanz schon nicht mehr so stark vom materiellen und politisch-militärischen Status der Staaten abhängt. Diese Tendenz steigt im Zuge der Entwicklung planetarischer Zivilisation zu einem qualitativ neuen Zustand, die durch die Informations- und Kommunikationsrevolution beschleunigt wird.

Das Bestreben der führenden Macht- und Einflusszentren der Welt, die Menschheit im „Schoß“ des eigenen Kulturraums zu halten, hat zwangsläufig zu Folge, dass deren eigene Sprachen immer aktiver gefördert werden. Im kommenden Informationszeitalter erhält die Sprache als Mittel der verbalen Kommunikation und Information, dieser wichtigen Quelle des Fortschritts, ein höheres Gewicht. Somit werden die Eigenschaften und Möglichkeiten der Sprache, kulturelle Entwicklungsbedürfnisse- und -prioritäten zur Geltung zu bringen und zu fördern, nicht nur weiterhin
beibehalten, sondern auch voll und allseitig entfaltet.

In diesem Sinne kann die russische Sprache dafür eingesetzt werden, um, einerseits, wertvolles Kulturgut Russlands zu mehren bzw. den Menschen näherzubringen, andererseits aber um die Anziehungskraft des Landes herabzusetzen, wenn nicht zum Schwinden zu bringen. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert das mehrfach herausgegebene Lehrbuch der russischen Sprache für Ausländer „Poechali!“ („Fahren wir!“). Die Verfasser präsentieren darin Russland mithilfe von solchen, als Symbole des russischen Lebens genannten Sinnbildern wie: Trunkenheit, die totale Korruption, die allmächtige Mafia, die russische Kälte, die Vertreibungsgefahr, die diktatorische Macht etc.

Im Gegensatz dazu wurde die englische Sprache dank der Bemühungen der offiziellen US-Strukturen zu einem der wirksamsten Werkzeuge bzw. Hebel der amerikanischen Vorherrschaft in der modernen Welt. Der Ausdruck „Globalisierung des amerikanischen Englisch“ ist schon längst in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch eingegangen.

Die weltweite Verbreitung der französischen Sprache ist Gegenstand der Tätigkeit von der Alliance Française, einer mit dem französischen Kulturministerium verbundenen und von der Regierung unterstützten NGO.

Das Interesse für die russische Sprache wird u. a. durch die russische Kunst, Literatur und Theater gefördert. Der Verband der russischen Theaterschaffenden hat 140 Mitglieder aus 40 Ländern. Ausländische Studenten an Kunsthochschulen lernen Russisch, um die „russische Seele“ zu verstehen. Es gibt auch sehr kuriose Fälle: Die 90-jährige Engländerin Mary Hobson zum Beispiel hat 30 Jahre lang Russisch gelernt, um „Krieg und Frieden“, „Verstand schafft Leiden“ und „Eugen Onegin“ im Original zu lesen.

Europäische Union als Modell für die globale Sprachenintegration

Im Hinblick auf künftige Gestaltung sprachlicher Globalisierung erhält das europäische Modell der Mehrsprachigkeit eine besondere Aktualität und Relevanz.

Rechtlich verankert sind Grundsätze und Normen sprachlicher Vielfalt in der EU in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), in Artikel 165 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und in der EU-Charta, die der EU Verpflichtungen auferlegt, sprachliche Vielfalt zu bewahren und zu fördern (Artikel 22)6.

In diesem Kontext bedeutet die Integration in gewissem Sinne eine Orientierungsgröße bzw. eine Zielsetzung für die Gestaltung künftigen planetarischen Kulturraums sowie für die Stellung und Rolle von Nationalsprachen in diesem Prozess.

So harmonisch und widerspruchsfrei die sprachliche Situation in Europa erscheinen möge, birgt sie in sich noch immer Probleme, Gegensätze, Unebenheiten. Bekanntlich werden die Amtssprachen aller EU-Mitgliedsstaaten als offizielle Sprachen der Europäischen Union anerkannt. Trotzdem bilden Frankreich, Deutschland und Großbritannien (vor dem Brexit), die eine dominante Stellung im wirtschaftlichen, politischen und sprachlichen Bereich einnehmen, eine Kerngruppe der größten Nutznießer der EU-Sprachenpolitik. Praktische Umsetzung bestehender Empfehlungen, laut deren jeder Europäer neben seiner Muttersprache zwei Fremdsprachen beherrschen solle, bringt Vorteile nur für die höchst entwickelten und mächtigsten Länder. Überdies wird die europäische Sprachenlandschaft durch starke Migrationsströme verändert, die vom erheblichen Unterschied im Lebensstandard zwischen Zentrum und Peripherie verursacht werden. Das führt zwangsläufig dazu, dass immer mehr Menschen die Amtssprachen der zur Kerngruppe gehörenden Staaten als Verständigungsmittel benutzen.

Ferner gibt es neben den Amtssprachen 60 autochthone Regionalsprachen, auch als Sprachen der Bevölkerungsminderheiten bezeichnet (Baskisch, Katalanisch, Friesisch usw.), die von mehr als 40 Millionen Menschen in der Europäischen Union gesprochen werden. Formal gleichberechtigt, leiden diese Sprachen an der Deprivation von ihrem funktionalen Raum.

Selbst unter den Sprachen der führenden Länder ist die Hierarchie deren Anwendung in den offiziellen EU-Strukturen nicht vollständig beseitigt. Während Englisch, Französisch und Deutsch in der Europäischen Kommission den Status prozeduraler bzw. Arbeitssprachen haben, in denen die täglichen Aktivitäten abgewickelt werden, gelten Italienisch und Spanisch als „unterstützende“ bzw. Hilfssprachen.

Im europäischen Hochschulsystem entstand auch eine gewisse Dysbalance in Bezug auf das Erlernen von Fremdsprachen. Die gefragtesten Studiengänge, die auf berufliche Karriere fördernd wirken, sind in der Regel englischsprachig. Auf eine enge Korrelation zwischen dem beruflichen Potenzial der Europäer und ihren Fremdsprachenkenntnissen wurde in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von 2011 und 2014 verwiesen. Das zeigen auch die Daten einer soziologischen Erhebung von Eurostat aus dem Jahr 2016. Der Umfrage zufolge liegt der Anteil der Europäer im Alter von 25 bis 34 Jahren, die eine Fremdsprache beherrschen, bei 73,3 Prozent und in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen – bei 55,1 Prozent; der Anteil derjenigen, die eine Fremdsprache beherrschen, ist bei den Personen mit dem akademischen Abschluss um 35,4 Prozent höher als bei den anderen erwerbstätigen EU-Bürgern. Die vorrangige Ausrichtung auf das Erlernen von „Basissprachen“ ist auch im europäischen Schulsystem zu verzeichnen. Laut Eurostat lernen 97,3 Prozent der Schüler der Sekundarstufe I Englisch als Fremdsprache, 33,8 Prozent – Französisch, 23,1 Prozent – Deutsch, 13,6 Prozent – Spanisch, 2,7 Prozent – Russisch und 1,1 Prozent – Italienisch.7 Abgeordnete des Europäischen Parlaments heben hervor, dass Bürger, die beispielsweise nur Estnisch, Tschechisch oder Dänisch können, in ihrem Zugang zu digitalen Technologien erheblich eingeschränkt sind.

Somit ergibt sich derzeit im europäischen Sprachraum eine Situation, dass trotz der breit angelegten Strategie zum Erhalt der Multilingualität ein erheblicher Teil der Bevölkerung es befürchtet, ihre Sprache und die damit verbundene nationale und kulturelle Identität zu verlieren. Vor diesem Hintergrund erscheint im europäischen Alltagslexikon ein neuer Begriff „Sprachprotektionismus“ für die Bezeichnung von sozialer Einstellung, die auf Bewahrung sprachlicher Identität von vereinigten Ethnien und Völkern abzielt.

Allerdings wird sogar in den europäischen akademischen Kreisen der Standpunkt vertreten, dass die Beibehaltung der Mehrsprachigkeit den Integrationsprozess behindert.

Nachdem die Europäische Kommission die Finanzierung der „Plattform der Zivilgesellschaft für die Förderung der Mehrsprachigkeit“ eingestellt hatte, wandte sich diesem Problemkreis die NGO „Europäische Zivilgesellschaft für Mehrsprachigkeit“ (ECSPM) zu, die von der europäischen akademischen Gemeinschaft aktiv unterstützt wird. Diese Organisation setzt sich dafür ein, dass die Mehrsprachigkeit ganz oben auf der EU-Agenda stehen sollte, da sie der Meinung ist, dass eine kohäsive mehrsprachige Gesellschaft das Herzstück des europäischen Integrationsprozesses bilden soll.

Sicher befindet sich das vereinte Europa erst am Anfang des schwierigen Weges zur praktischen Umsetzung einer echten Mehrsprachigkeit und kulturellen Gleichheit der in der Integrationsunion vereinten Völker. Es besteht zurzeit eine tiefe Kluft zwischen der proklamierten Mehrsprachigkeit und den sozialen Praktiken bei der Anwendung von europäischen Sprachen. Angesichts dieser Tatsache werden Untersuchungen vorgenommen, um Mechanismen für die Reproduktion einer echten Mehrsprachigkeit zu finden. So sind solche groß angelegten Studien im Gange wie „Sprachentwicklung und Diversitätsmanagement“ [Language Dynamics and Diversity Management (D.Y.L.A.N.)], „Mobilität und Eingliederung in einem mehrsprachigen Europa“ [Mobility and Inclusion in a Multilingual Europe (M.I.M.E.)], „Erweiterung der europäischen Mehrsprachenerfahrung [Extension of the European Multilingual Experience (AThEME)]“ usw.

Trotz aller Bemühungen gelang es jedoch noch nicht, eine klare Vision für die Umsetzung dieses wichtigen EU-Konzeptes zu entwerfen. In der Praxis ergeben diese Anstrengungen bloß einige Palliativa, wie z. B. Herstellung von Untertiteln für Filme, die in den gängigen Sprachen produziert werden, Übersetzung von Druckerzeugnissen in Minderheitensprachen, Übersetzung von Dokumenten der europäischen politischen Institutionen in die Sprachen ethnischer Minderheiten, Schaffung notwendiger Bedingungen für die Einführung der Studiengänge in allen Amtssprachen der EU usw.

In akademischen und sozialpolitischen Diskursen wird offen zugegeben, dass die europäische Politik des Multikulturalismus völlig gescheitert ist. Es bleibt daher unklar, wie man den Hunderttausenden von Migranten, die aus den ärmsten Ländern der Welt nach Europa kommen, helfen kann, sich in die europäische Gesellschaft zu integrieren. Laut Eurostat lag die Zahl der Migranten in der EU im Jahr 2018 bei 18,5 Millionen. Allein im Jahr 2020 kamen 1,3 Millionen Flüchtlinge nach Europa.8 Für diese Kategorie der „neuen Europäer“ gibt es keine Vorstellung von ihrem Platz in der europäischen Mehrsprachigkeit. Es fehlt auch ein komplementäres Modell deren Sozialisierung.

Der vielleicht einzige sichtbare Erfolg der europäischen Sprachenpolitik ist das einheitliche Konzept der sechsstufigen Sprachausbildung, bei der die Stufe A1 dem niedrigsten und die Stufe C2 dem höchsten Grad der sprachlichen Kompetenz entspricht. Die Mehrsprachigkeit als eine anspruchsvolle Zielsetzung und Strategie der EU musste allerdings dadurch stark relativiert werden, dass man den EU-Bürgern in den „Vorschlägen des Europäischen Rates für ein einheitliches Herangehen ans Sprachenlehren- und -erlernen“ empfiehlt, neben deren Muttersprache noch zwei Fremdsprachen zu beherrschen. Aber selbst dieses weniger ambitionierte Ziel erscheint in der absehbaren Zeit als unerreichbar. Nach Angaben von Eurostat kann nur die Hälfte der europäischen Bürger mindestens eine Fremdsprache sprechen, nur jeder fünfte Europäer beherrscht neben seiner Muttersprache zwei weitere Sprachen und nur jeder zehnte spricht mehr als zwei Fremdsprachen.

Insofern sollen die Ansätze kritisch betrachtet werden, eine linguistische Universalität durch die Einführung der am meisten gesprochenen Sprachen, vor allem des Englischen, zu erreichen. Das ist umso mehr bedenklicher, als es sich mit der Strategie zur Förderung der Mehrsprachigkeit nicht in Einklang bringen lässt. Eine 2019 durchgeführte Umfrage des Pew Research Center in 14 EU-Ländern ergab, dass mindestens acht von zehn Europäern in der Heimat ihre Landessprache als Verständigungsmittel benutzen. In Polen beträgt die Zahl solcher Bürger fast 100 Prozent der Bevölkerung, in Griechenland – 98 Prozent, in Italien – 96 Prozent, in der Slowakei – 89 Prozent, in Spanien – 81 Prozent und in Bulgarien – 80 Prozent. Dazu kommt noch, dass diejenigen, die in ihrer Heimat im Berufsleben nicht ihre Landessprache benutzen, in ihrem häuslichen Alltag doch die Muttersprache und nicht die am meisten verwendete Sprache gebrauchen. So sprechen beispielsweise 2 Prozent der deutschen Bürger zu Hause Türkisch, 1 Prozent – Arabisch und 6 Prozent – andere Muttersprachen9.

Darüber hinaus schafft die Förderung des englischen Sprachuniversalismus eine paradoxe Situation im Zusammenhang mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU. Es gilt vor allem für das Fremdsprachenstudium, wo sich Englisch eine große Popularität erfreut (Die Zahl der Englischlernenden übersteigt in Europa mit einem beträchtlichen Abstand die Gesamtzahl derjenigen, die andere Fremdsprachen lernen). Dabei kann Englisch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU logischerweise nicht mehr eine der Amtssprachen der Union sein. Argumente, die in Bezug auf englischsprachiges Irland und Malta vorgebracht werden, können kein Grund für die Beibehaltung seines Status einer offiziellen Sprache sein, da diese Länder bereits Gälisch und Maltesisch zu ihren Amtssprachen erklärt haben. Vor diesem Hintergrund mehren sich seit 2018 die Stimmen gegen die englische Dominanz in der EU. Unter anderen führenden EU-Politikern haben sich dafür Emmanuel Macron, französischer Staatspräsident, Jean-Claude Juncker, Chef der Europäischen Kommission, und Clément Bon, Staatssekretär für europäische Angelegenheiten im französischen Außenministerium, ausgesprochen.

Russisch im zivilisatorischen Sprachprozess

Die russische Sprache, die einen lebenden Organismus bzw. eine lebensspendende Substanz im System kultureller Identitäten darstellt, unterliegt wie auch jede Sprache der Welt dem Einfluss von Globalisierungsprozessen (Intellektualisierung der Weltgemeinschaft nach D. Bell, „dem Fall aller Mauern in der Welt“ nach T. Friedman). Abhängig von der jeweiligen Auslegung vom Megatrend „Globalisierung“ schwingen bei der Bewertung linguistischer Transformationen mitunter sehr unterschiedliche Konnotationen mit. Die Definition der Globalisierung als Megatrend geht von der Universalität der Information als solch einer Quelle der planetarischen Entwicklung aus, die die Grenzen jeglicher Lokalisierung überschreitet, sei es Eigentum, Territorium oder Souveränität. In diesem Kontext wächst, erstens, die Bedeutung der Sprache als sprachlichen Kommunikationsmittels, und ihre Funktion geht demzufolge über die nationale Identität hinaus. Zweitens setzt es voraus, dass nur eine komplementäre Bereicherung des nationalen Sprachraums und nicht dessen Ersatz konstruktiv sein kann (aufgrund des Eigenwerts jeder Sprache).

Die objektive weltweite Interdependenz, die vom internationalen Kapital ausgenutzt wird, um durch seine finanzielle Dominanz staatliche, nationale und kulturelle Identitäten zu überwinden, schafft den Eindruck einer „sichtbaren Gesetzmäßigkeit“ der Universalisierung von kultureller und sprachlicher Globallandschaft, beispielsweise durch die Vernetzungsmöglichkeiten der englischen Sprache als Lingua franca.

Dementsprechend wirken auf die russische Sprache, wie auf den gesamten globalen Sprach- und Kulturraum, einerseits objektive Faktoren, die die Schaffung solch einer Transkulturalität bezwecken, die eine breite Vielfalt von Identitäten nicht ausschließt. Andererseits aber steht das Russisch unter Einfluss von subjektiven, politisch engagierten Kräften, die eine Vereinheitlichung und Homogenisierung der planetarischen Sprachlandschaft anstreben.

Der zweite Trend, der je nach Verschärfung des internationalen Wettstreits um die weltweite US-Vorherrschaft stärker wird, gehört zur allgemeinen Strategie des „Endes der Geschichte“ (nach Fukuyama) als ihr maßgebender Bestandteil. Wissenschaftlich wurde dieser Ansatz von Abram De Swaan in seinem Werk „Words oft he World. The Global Language System“ behandelt. In seiner Studie schlug er vor, durch die weltweite Implementierung des Monopols der englischen Sprache „das Chaos im gesamten Sprachsystem der Welt zu beseitigen“.

Mit dem Eindringen der westlichen Massenkultur (einschließlich der virtuellen Internetkultur) „keimt“ das Englisch im nationalen Sprach- und Kulturraum und trägt unvermeidlich böse, zerstörerische „Früchte“, die den lebenden Organismus, nicht nur verstopfen, sondern auch deformieren. Die russische Sprache bildet da keine Ausnahme.

Befürworter des „gemäßigten“ Herangehens treten für die Aufrechterhaltung der englischen Lingua franca nur in der Funktion eines universellen Kommunikators ein, der ethno-kulturelle Gemeinschaften mit dem globalen Ganzen verbindet.

Bei derart beschränktem Ansatz ist es doch kaum möglich, nachzuvollziehen, wie die Folgen der Interaktion zwischen z. B. dem nationalen Russischen und der dominanten „internationalen“ Sprache auf die russische Sprache auswirken. Dieses „Zusammenspiel“ erinnert an Wilsons Hoffnungen auf eine Weltordnung, die auf gemeinsamen Regeln und Normen beruhen sollte. Bekanntlich scheiterten seine Erwartungen an den Wiedersprüchen, die zum Zweiten Weltkrieg führten. Es ähnelt auch den westlichen „universellen“ Modellen einer demokratischen Staatsordnung, die sich im Rahmen historischer und kultureller Gegebenheiten eines nicht-westlichen Landes als völlig unhaltbar erwiesen.

Realitätsfremd erscheint auch das Konzept einer kulturellen „Autonomisierung“ des nationalen Sprachraums im Zusammenhang mit der sich entwickelnden monolingualen Rolle des Englischen in internationaler Kommunikation. Auf die Überwindung der negativen Folgen der Dominanz einer einzigen Sprache in der internationalen Kommunikation wurde das Projekt der Universalsprache Esperanto von L. Zamenhof ausgerichtet, das zunächst intensiv vorangetrieben, aber in den 1950er Jahren durch die Hegemonie der USA unterbrochen wurde, die ihre Sprache als kulturelle Dominante aktiv durchzusetzen begannen.

Besondere Beachtung verdient die These, wonach Englischkenntnisse zum Bestandteil der „dem Kunden angebotenen Ware“ werden. Englischkenntnisse werden als zusätzliche Präferenz gepriesen, die die Absatzmöglichkeiten der Erzeugnisse wesentlich erhöhen. Fairerweise muss man zugeben, dass in der gegenwärtigen Architektur der Weltwirtschaft, in der die „Spielregeln“ vom führenden Machtzentrum festgesetzt werden, derartige Behauptungen durchaus berechtigt sind. Gleichzeitig deuten aber viele Anzeichen auf die Krise der globalen kapitalistischen Wirtschaft, wovon auch hochrangige Amtspersonen im Westen zu sprechen beginnen. Vor diesem Hintergrund stimmt die These über die Monetarisierung des englischen internationalen Monolingualismus sehr bedenklich.

Die nationalen Sprachen stehen unter dem Einfluss von zwei Arten der Globalisierung, u.z. der objektiven, die mit dem Übergang der planetarischen Zivilisation zum Informationszeitalter verbunden ist, sowie der „von Menschenhand gemachten“, die durch die Hegemonie der Finanzen- und Machtzentren (vor allem der USA) initiiert wurde. Es werden dabei alle Funktionen der Sprache angegriffen: die semiotische, die den Strom von Symbolen zu einem ethnisch-kulturellen Ethos zusammenfasst bzw. aggregiert; die kommunikative, die die Möglichkeiten bzw. Fähigkeiten eines Volkes, sich selbst zu hören und seine Stimme nach außen zu senden, erweitert oder verengt; und die kognitive, die die Konsolidierung der weltweiten wissenschaftlichen Kapazitäten sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene gewährleistet.

Beim politisch orientierten Herangehen können die lexikalischen Formen, die in Bezug auf die ethno-kulturelle Identität eine systembildende Funktion erfüllen, wesentlich modifiziert oder gar umgedeutet werden. Einen beredten Beweis für die Westorientierung des russischen Sprach- und Kulturraums liefern Ergebnisse der Umfrage, die das Zentrum für zivilgesellschaftliche Studien und der Non-Profit-Sektor an der Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaft“ (National Research University Higher School of Economics) im Dezember 2020 unter der russischen Bevölkerung durchführten. Auf die Frage „Was ist Patriotismus?“ antworteten 67 Prozent der Menschen erwartungsgemäß mit „Liebe zum Vaterland“, aber 26 Prozent sagten, dass „Patriotismus eine Verschwendung von Geld und Zeit zum Wohle der Gesellschaft ist“. Es ist umso bemerkenswerter, als der Patriotismus in der Russischen Föderation zur konsolidierenden Idee erhoben wurde.

Im Laufe der Geschichte diente die Volkssprache als Grundlage für die Entwicklung der russischen Sprache, die nicht durch eine scharfe Trennung in die Sprache des einfachen Volkes, der „Plebs“, und die Sprache des Adels, der Elite, gekennzeichnet war. Im Gegenteil. Die Volkskultur ist zu deren unerschöpflichen Quelle geworden. In den letzten Jahren ist jedoch ein negativer Trend in diesem Bereich zu beobachten, der in enger Beziehung mit der Herausbildung eines Stratums von Sprachformen und Vokabeln steht, die hauptsächlich aus europäischen Sprachen entlehnt wurden. Diese Neuschöpfungen sind vor allem auf die Interessen und Bedürfnisse der wohlhabenden Gesellschaftsschichten gerechnet. Deren Repräsentanten leben „im Trend“, tragen die „Brands“-Kleidung, halten sich für „kreative“ Persönlichkeiten und fühlen sich als Teil der Welt des „Glamours“.

Die Herausbildung einer neuen „russischen Sprache“ voller englischen Entlehnungen ging mit der Entstehung der Subkultur des Glamours einher, die vor allem „life style“ der oberen sozialen Schichten kennzeichnet. Gleichzeitig haben Studien von B.D. Hodshageldiew und O.S. Schurupova gezeigt, dass beispielsweise in der Region Lipetsk mehr als die Hälfte der Menschen unterschiedlichen Alters überhaupt keine Amerikanismen verwenden.

Gerechtigkeit halber muss eingeräumt werden, dass die Folgen der sprachlichen Globalisierung durchaus konstruktiv sein können. Die Sprachen der Welt bereichern sich gegenseitig, indem sie das Kulturgut ihrer Träger in sich verarbeiten. Eine moderne Sprache ohne (längst nicht mehr als fremd empfundenen) Wörter, die in der Herrschaftszeit von Peter dem Großen fest im heimischen Wortschatz verankert wurden (z. B. Assamblee, Kollegium, Navigation etc.), ist schwer vorstellbar.

Von den modernen Lehnwörtern ist das weit verbreitete Wort „Volontär“ seinem russischen Pendant „Freiwilliger“ schon gleichgestellt. Sprachwissenschaftler heben hervor, dass solche Fachbegriffe aus dem Bereich Informationstechnologie wie „online“, „Webinar“, „Startup“ oder aus dem Wirtschaftsgebiet wie „Hypothek“, „Geldautomat“, „Terminal“ unbedingt erhalten bleiben.

Natürlich beschränkt sich die Transformation der kommunikativen Funktion der russischen Sprache keineswegs nur auf die soziale Strukturierung des sprachlichen und kulturellen Raums. Die „Mutation“ des sprachlichen Organismus, die im Rahmen des englischsprachigen Informationsmainstreams erfolgt, verengt seine Möglichkeiten, das russische Kulturerbe im linguo-kulturellen Raum zu verbreiten.

Die kognitive Funktion der russischen Sprache scheint, sich unter dem Einfluss des Globalisierungsprozesses durchaus gut zu entwickeln. Diese positive Bewertung der Transformation der Sprache als Mittel der Erkenntnis, die durch den Fall des Eisernen Vorhangs begünstigt wurde, ist teilweise richtig. Allerdings bringt die zunehmende Integration der russischen Sprache in den globalen wissenschaftlichen Raum nicht nur zufriedenstellende Ergebnisse. So veröffentlichen die führenden Fachzeitschriften, die in den Datenbanken „Scopus“ und „Web of Science“ indexiert sind, wissenschaftliche Abhandlungen größtenteils in englischer Sprache. Dabei wird der Text von in englischer Sprache veröffentlichten Beiträgen, insbesondere in geisteswissenschaftlichen Fächern, erheblich vereinfacht. Bei der Einschätzung der aktuellen Mission der russischen Sprache im globalen Sprach- und Kulturraum werden des Öfteren politisierte diskursive Bewertungen abgegeben, die nicht nur die Sprachsituation negativ akzentuieren, sondern den gesamten „bunten“ Sprachprozess bewusst ausschließlich auf eine negative Agenda reduzieren, was dem humanistischen Inhalt krass widerspricht.

So argumentiert L. Ryazanova-Clark von der Universität Edinburgh, dass eine zunehmende „sprachliche Gewalt“ zum vorherrschenden Trend in der Entwicklung der russischen Sprache während der Präsidentschaft von W.W. Putin geworden ist (verbale Handlungen, die die seelischen Traumata verursachen)10. Der Standpunkt der Verfasserin ist so politisiert und entbehrt jeglicher Begründung, dass es keinen Sinn hätte, es wissenschaftlich zu besprechen. In der Sitzung des Rates für die russische Sprache im November 2019 sprach sich der russische Präsident ausdrücklich dagegen aus, der russischen Sprache die Funktion einer kulturellen „Waffe“ zuzuteilen. „Man kämpft bereits gegen sie, allerdings aus anderen Gründen. Ja, sie ist wirklich bis zu einem gewissen Grad eine Kraft – „Sanfte Gewalt“. Ich denke, es dürfte genügen“11, bemerkte Putin.

 

Die russische Sprache als eine der am weitesten verbreiteten Sprachen auf der Erde verfügt aufgrund ihrer natürlichen Eigenschaften über ausreichende Anpassungskapazitäten in der gegenwärtigen globalen soziokulturellen Realität, wo es möglich ist, einen offenen Informationsraum zu bilden, in dem alle Sprachen kleiner und großer Völker, Nationen und Staaten als Träger einzigartiger kultureller Werte nicht nur erhalten bleiben, sondern auch neue einmalige Inhalte bekommen. Die Gestaltung der künftigen kulturellen Vielfalt kann nicht auf Grundlage einer einzigen kulturellen Determinante vor sich gehen. Ein solcher Prozess muss sich auf die komplementäre Interaktion aller Akteure in der globalen Kulturlandschaft stützen.

Die Europäische Union, die die Mehrsprachigkeit als seine strategische Zielsetzung vorgegeben hat, könnte in diesem Sinne gewissermaßen als ein „Pilotmodell“ der kulturellen Integration fungieren. Es ist jedoch festzustellen, dass es Brüssel trotz seiner Bemühungen bislang noch nicht gelungen ist, Wege zur Verwirklichung dieses komplexen Ziels, wenn auch in Form eines konzeptionellen Ansatzes, zu finden.

 

 

1 Siehe: Dukhovnyye vozzreniya Chokana Walikhanova [Geistige Gesinnung von Tschokan Walichanow] // URL: https://www.rusline.ru (Abrufdatum: 14.05.2021).

2 N.G. Kozin, Rossiya. Chto eto? V poiskakh identifikatsionnykh sushchnostey [Russland. Was ist das? Auf der Suche nach Identitätseinheiten]. Мoskau: Akademicheskiy proyekt; Alma Mater. 2012. S. 51.

3 A. Etkind, Internal Colonization. Russia’s Imperial Experience // Polity Press. 2011. P. 391.

4 Wladimir Putin: Patriotizm – neot’yemlemaya sut`nashego naroda (17 aprelya 1914 g.) [Patriotismus als Kernstück unseres Volkes (vom 17. April 2014)] // https://ruskine.ru/news_rl/2014/-4/17/vladimir_putin_patriotizm_neotemlemaya_sut_nashego_naroda (Abrufdatum: 24.05.2021).

5 Putin bezeichnete die russische Sprache als eine Grundlage für die nationale Identität // URL: https://ria.ru/20200606/1572564122html (Abrufdatum: 25.05.2021).

6 Fact Sheets in the European Union // URL: https://www.europart.europa.eu/factsheets/en/sheet/142/language-policy (дата обращения: 04.06.2021).

7 Eurostat. Which are the most studied foreign language? (% of pupils at Lower Secondary Level) // URL: https://ec.europa.eu/eurostat/news/thenes-in-the-spotight/language-learning (Abrufdatum: 05.06.2021).

8 Eurostat Statistics Explained (2018). Migration and migrant population statistics // URL: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Migration_and_migrant_population_statistics#Migrant_population:_almost_22_million_nonEU_citizens_living_in_the_EU (Abrufdatum: 04.06.2021); URL: https://visam.ru/emigration/europe-emigration/bezhency-v-europe_hyml (Abrufdatum: 04.06.2021).

9 Pew Research Center. Speaking the national language at home is less common in some European countries // https://www.pewresearch.org/fact-tank/2020/01/06/speaking-the-national-language-at-the-home-is-less-common-in-some-european-countries/ (Abrufdatum: 12.06.2021).

10 Ryazanova-Clarke L. 2018, Russian linguistic culture in the era of globalization: A turn to linguistic violence. / S. Hudspeth & V. Strukov (eds.). Russian Culture in the Era of Globalization. 1st edn. BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies. Routledge. P. 264-290.

11 R. Shimayev, «Myagkaya sila», «peshchernyye rusofoby» i al`ternativa «Vikipedii»: o chem govoril Putin na zasedanii Soveta po russkomu yazyku [“Sanfte Macht”, “höhlenbewusste Russophobiker” und die Wikipedia-Alternative: Was Putin auf der Sitzung des Rates für die russische Sprache besprach] // (07.06.2021).

 

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